Die Inszenierung und Darstellung klassischer wie zeitgenössischer Kunst und Kultur war der Evangelischen Kirche in Essen immer schon ein wichtiges Anliegen. Anlässlich des Reformationstages am 31.10.2005 hat der damalige Evangelische Stadtkirchenverband Essen (seit 2008 „Kirchenkreis Essen“) erstmals einen Künstler*innen Wettbewerb ausgeschrieben, um den Dialog zwischen Kirche und den Künsten in einem zeitgenössischen Kontext zu initiieren. Die Idee, kirchlichem Handeln in der Gesellschaft aus diesem, auch kontroversen Dialog heraus neue Impulse zu verleihen, stand unter dem Motto „Aus der Freiheit leben. Das Schöpferische in Kirche und Kultur“. Eingeladen waren alle Kunstschaffenden in Essen, sich in allen künstlerischen Techniken zu beteiligen. Freiheit ist Basis jedes künstlerischen Ausdrucks. Der Begriff der Autonomie der Kunst bzw. des autonomen Kunstwerkes, hat sich in der Ästhetik des 19.Jahrhunderts entwickelt. Indem das Kunstwerk als ein vollendetes Werk verstanden wird, kann es eine eigene Welt generieren, die dem gesellschaftlichen und religiösen Raum gegenübersteht, diesen konterkariert und provoziert. Zugleich ist das Bekenntnis zur Freiheit eine Grundaussage der Reformation. Das Motto knüpfte an Martin Luthers Schrift von der „Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) an und, so die Formulierung in der Ausschreibung, forderte dazu auf, das Motto mit einer je eigenen Schlüsselgeschichte aus der Bibel zu verknüpfen.
Insgesamt haben sich 81 Künstler*innen an diesem Wettbewerb beteiligt, deren Arbeiten von einer Jury, die sich aus Vertreter*innen der Essener Kulturszene zusammensetzte, begutachtet wurden. Durch das Engagement von zwei Sponsoren, der KD Bank und der Essener Allbau Stiftung, stand ein Budget von 5000 Euro zur Verfügung.
Die Preisverleihung durch den Superintendenten Irmenfried Mundt fand am 27.Oktober 2005 in „Die Neue Galerie“ der Volkshochschule Essen im Rahmen einer Werkschau (bis 18.November 2005) der prämierten Künstler*innen statt. Die präsentierten Arbeiten, unabhängig vom Wettbewerb entstanden, gaben einen repräsentativen Einblick in die jeweilige Arbeitsweise der Künstler*innen und veranschaulichten zugleich die Bedeutung, die dem Begriff der Freiheit generell in ihrer Kunst zukommt.
Den ausgelobten Kunstpreis in Höhe von 3000 Euro erhielt Dirk Hupe. „Konservierte Textfragmente in Silikon lagert er auf transparenten Rechtecken. Lesbare Buchstaben auf durchsichtig, teilweise durchleuchteten geometrischen Körpern verneinen trotz Eindeutigkeit, größtmögliche Klarheit und Offenheit ein verstehendes Sehen. Wie einst die babylonische Sprachverwirrung oder die heutige großstädtische Überflutung mit Leuchtschriften zeigt sich hier das wahre Kommunikation nicht nur an Sprache bzw. Schrift gebunden ist. Zu Durchblick, Antworten auf Sinnfragen oder gar zur Erleuchtung gelangen wir so nicht.“ (Text: Die Neue Galerie der Volkshochschule, Essen 2005)
Für die 2007 realisierte Einzelausstellung in der Erlöserkirche, Essen, entwickelte der Preisträger eine Installation mit Wortfragmenten, die von der Kirchenkuppel schwebend, sich mit dem gepredigten „Wort Gottes“ auseinandersetzten.
Den zweiten Platz (500 Euro) vergab die Jury an die Künstlerin Christine Brunel. „Sie zeigt „Grenzgänger aussortieren“. In der Schublade eines Tisches sind jede Menge handgemalte und gezeichnete Karten gestapelt. Postkarten, die über eineinhalb Jahre hinweg bei regelmäßigen Unterrichtsstunden der Künstlerin in einer JVA von ihr und den inhaftierten jungen Männern entstanden. Ein stiller Ausdruck von Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten, die jene aus unserer Gesellschaft Aussortierten bewegen. Unheimliche Botschaften ohne Adressaten, von der Künstlerin bewahrt, verstaut im Küchentisch und durch transparente Glasplatte sichtbar gemacht.“ (Text: Die Neue Galerie der Volkshochschule, Essen 2005)
Ebenfalls den zweiten Platz (500 Euro) belegte Jems Robert Koko Bi. “Er legt uns marche infinie vor die Füße. Mumienhafte schwarze Körper mit einem Kopf zum Denken, aber handlungsunfähig. Unvollständige Arme und Beine liegen wie zu einem Scheiterhaufen aufgestapelt da. Diese angebrannten Pappelhölzer werden von einzelnen grob geschnitzten hellen Füßen umringt. Eine schwere Eisenkette schließt den Kreis, in dem kleine, kräftige, glatt abgesägte Holzfüße auf eine Vielzahl individueller, aber angeketteter Wesen hindeuten. Es entsteht der Eindruck, als seien alle, die sich im Bann dieses Kreises befinden, zur Unfreiheit und zum Scheitern verurteilt.“ (Text: Die Neue Galerie der Volkshochschule, Essen 2005)
Den dritten Platz teilten sich zwei Künstlerinnen (jeweils 500 Euro). Bettina Zachow: „Ihre Objekte sind zart und filigran. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich, wie konkret die Titel Reifung und Schauer sich verstehen lassen. Kokonartig sind graue und schwarze Haare zu gleichförmigen zylindrischen Hüllen verknotet, gedreht und aufgereiht. Die Schattierungen des ergrauten Haares sowie ihre lineare Reihung spiegeln Reifungsprozesse, Zeitläufe und die Vergänglichkeit des leiblichen Seins. Ein Schauer mag einem beim Betrachten der Skulpturen überkommen. Verspannt wie Spinnweben hängt eine torsoähnliche vollplastische Form aus rot gefärbtem Haar da. Einer Reliquie gleich, verkörpern die Haare den Abwesenden, steht das materielle Relikt für die Unfassbarkeit der Ganzheit.“ (Text: Die Neue Galerie der Volkshochschule, Essen 2005)
Hannelore Landrock-Schumann: “Sie arbeitet in und mit Räumen. Gerade die scheinbare Neutralität jüngerer Gebäude und Funktionsräume blockiert oftmals ein emotionales Raumerlebnis. Aus der Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort, seiner geschichte, Funktion und Umgebung entwickelt die Künstlerin Gestaltungskonzepte, durch die die Individualität des Raumes oder die „Seeledes Ortes“ anschaulich erlebbar wird. Mit dem Projekt Herzraum entwickelte sie anlässlich einer Fachtagung von Herzspezialisten für einen schmucklosen kühlen Saal die Möglichkeit, den gesamten Raum wahlwiese in monochromes farbiges Licht zu tränken. Der von den Nutzern jeweils gewählte Farbton erzeugt Stimmungen, deren Erleben sich kein Mensch im Raum entziehen kann.“ (Text: Die Neue Galerie der Volkshochschule, Essen 2005)
Ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Vorträgen und Ausstellungen, das von Essener Kultur- und Kunstschaffenden gestaltet wurde, begleitete das Projekt. Ziel war es, dass Kirche in der Begegnung mit Kunst an zeitgemäßer Sprachfähigkeit für den Dialog mit der Gesellschaft gewinnt, sich so aktiv am kulturellen Diskurs beteiligt und kreative Räume schafft, in denen Menschen Potenziale wahrnehmen können für ein Leben in Selbstbestimmung, Solidarität, Kreativität und gesellschaftlicher Verantwortung. Dietrich Bonhoeffer hat „Kultur als Spielraum der Freiheit“ bezeichnet. Sie schafft ein Experimentierfeld des Möglichen und führt in neue Denkräume. Im Gottesdienst in der Erlöserkirche am 30.Oktober 2005 interpretierte die Tänzerin Christine Brunel das Motto „Aus der Freiheit leben“ mit einer Performance. Ein „Kinetisches Objekt“ des Künstlers Gerhard von Graevenitz aus der Sammlung des Museum Folkwang wurde von Dr. Mario-Andreas von Lüttichau (Kurator der Sammlung Moderne Kunst und Skulptur) erläutert. Lebendige und abwechslungsreiche Eindrücke vermittelte der anschließende „Abend der Begegnung“ mit Arbeiten der Kunstgruppe der Nova Vita Residenz und der Maltherapie-Gruppe der Strahlenklinik im Alfried-Krupp Krankenhaus. „Echte Kunst von echten Menschen“ präsentierte die inklusive Kunstwerkstatt „FarbECHT“ der „Aktion Menschenstadt“, einer Initiative des Evangelischen Behindertenreferates Essen. Musikalische Akzente setzte die „Bluesbrothers-Band“ der Traugott-Weise-Schule sowie Kantoreien, Musikgruppen und Organisten im Innenraum der Erlöserkirche.
Der Videobeitrag gibt im Gespräch zwischen Pfarrer Werner Sonnenberg, Kurator des Kunstraum Notkirche und dem Künstler Dirk Hupe einen Rückblick auf seine Ausstellung „Sprach-Installationen“ im Kunstraum Notkirche 1995, den Kunstpreis des Essener Stadtkirchenverbandes 2005 und die Arbeit „Installation am Rande der Lesbarkeit – drei Studien zu Francis Bacons Study after Velazquez‘s Porträt of Pope Innocent X.“, die im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2010 für die Ausstellung in der Essener Marktkirche (Dem Antlitz zugewandt: Bilder des Menschen) entstand. Gleichzeitig schlägt ein in der Apsis der Notkirche installiertes neues Gemälde des Künstlers den Bogen zu seinem aktuellen Schaffen.